Aneta Wąsik - Hunderte von Kilometern, hunderte von Erinnerungen
Mit Tränen in den Augen steige ich in das Auto. Omi weint, mein Bruder weint, ja, sogar mein Hund weint. Mama kann nicht mehr weinen und steht nur da, so traurig, wie noch nie. Papa umarmt sie und kämpft mit den Tränen, die auf der Stelle raus wollen. Das letzte Mal winke ich ihnen hinzu, lasse die Bremse los und fahre. Ich wusste nicht, das es so schlimm würde, das alles hinter mir zu lassen. Zuhause hatte ich doch alles, vor allem viel bedingungslose Liebe. Eltern, die mich verstehen und mir helfen, meine Träume zu verwirklichen, Omas, die besten Köchinnen der Welt, für die ich immer wie ausgemagert aussah, Opa, der die spannendsten Geschichten aus dem zweiten Weltkrieg kannte und einen Bruder, den ich über alles liebe und auf den ich immer zählen kann. Und natürlich mein Hund, je älter, desto verrückter. Trotzdem hatte ich Fernweh. Trotzdem fahre ich jetzt mehr als 800 km zu einem Ort, der mir noch ein bisschen fremd ist, wenn nicht ganz fremd.
Mein Dorf. Ein komischer Ort. Voller Erinnerungen, die schön und schrecklich zugleich waren. Hier habe ich die besten Freundinnen meines Lebens gefunden, aber auch Menschen, die alles andere als loyal und hilfsbereit waren. Falsche Schlangen, die mich nur ausnützen wollten… Meine Freundinnen, Weronika und Monika, werde ich jetzt näher haben. Diejenigen, die mich noch nie im Stich gelassen haben. Ich werde auf sie nicht mehr das ganze Jahr warten müssen, bis sie wieder in Polen sind. Jetzt komme ich.
Oh Mann, was für eine blöde Kuh! So vor mir her, über die Straβe mit dem Fahrrad zu rasen! Wollte die sich grade umbringen, oder so? Ah du heilige… So was habe ich schon auch mal gemacht. Mit IHM. Meiner groβen Liebe. Damals hat er mich angeschrien, dass ich nicht Radfahren soll und das einzige, was ich kann, ist „Unfälle verursachen“. Naja, das war auch eines der letzten „Komplimente“, das ich gehört habe. Später war da nur seriöse Kritik. Ich konnte nichts, ich sah nicht gut aus, ich war zu klein, zu dick, zu schlank, zu leise, zu laut, zu, zu, zu… Daran will ich nicht mal denken. Nicht mehr. Nie wieder.
Groβ Strehlitz. Die erste „groβe“ Stadt, in der ich mich gut auskannte. Hier steht mein Lyzeum, ein Lyzeum, das mein Gehirn zum Kochen brachte. Unseren Deutschlehrer haben wir „unser Führer“ genannt, der war echt streng. Obwohl ich Deutsch schon lange spreche, fühlte ich mich das erste Mal blöd in diesem Fach. Er hat uns unglaublich viel beigebracht und dafür werde ich ihm immer dankbar sein. In dieser Schule fühlte ich mich am Anfang total einsam. Die Mädchen aus meiner Gemeinde waren in einer anderen Klasse. Und dann lernte ich sie kennen… Karolina und Sebastian. Gott, wie ich unsere blöden und lustigen Gespräche vermisse… Nie hatte ich so viel gelacht wie damals. Sie waren immer da – in guten, wie in schlechten Zeiten. Immer waren wir füreinander da. Bis heute haben wir Kontakt, haben aber wegen dem ganzen Studieren nicht Mal Zeit, uns zu treffen.
Schau Mal, Nettchen, da bist du wieder auf der Autobahn! Das ist wohl das einzige, was du kannst – geradeaus fahren. Hier musst du nicht parken, oder Süβe? Oh, guck doch – der Sankt Annaberg! Ist der schön, mit der Basilika da oben! Da schieβen mir wieder Tränen in die Augen… Ca. 40 km bin ich dorthin gepilgert. Jedes Jahr. Um zu bitten und um zu danken… Dieses Gefühl, wenn dich deine Mutti in die Arme nimmt, wenn du wieder im Dorf angekommen bist. So schön, und du bist so stolz auf dich selbst, dass du es geschafft hast, alles zu Fuβ, alles alleine, egal ob in der Sonne, oder im Regen. Hinter dem heiligen Berg Oberschlesiens ist auch ein Städtchen mit einem Kloster. Dort warst du auch… Ja, daran kann ich mich erinnern. Ich wollte nicht eine Woche im Kloster eingeschlossen sein, dabei waren es die Winterferien! Da meine Freundin unbedingt dorthin wollte, sagte ich „ja“. Das war eine der besten Antworten, die ich je gegeben habe. Nach dieser kurzen Woche fühlte ich mich wie ein anderer Mensch – ein glücklicher Mensch. Glücklich ohne Laptop, MP3 und Handy? Klar. Ich war deren Sklavin, und danach war ich frei. Frei, wie noch nie…
Zwei Stunden später
Breslau. Mein kleines, polnisches Wien. Die schönste Stadt Polens. Wenn nicht Polens – dann eben Schlesiens. Ich habe mich als Kind in sie verliebt, als Studentin bin ich dort zurückgekehrt. Das war das erste groβe Ziel in meinem Leben – in Breslau zu studieren. Gott, der Anfang war echt lustig – ich und Sybilla, zwei verlorene Mädchen aus kleinen Dörfern in einer groβen Stadt. Die Straβenbahnen, die vielen Leute, die groβen Gebäude, das alles war uns ganz neu. Nach einer Weile haben wir Marta und Ewa kennen gelernt. Wenn ich jetzt an all unsere Abenteuer denke, muss ich lachen. Die muss ich Mal in ein Buch bringen, in ein ganz dickes Buch. Wir lachten zusammen, wir weinten zusammen, wir schliefen auf einer riesigen Matratze zusammen, wir aβen zusammen, lernten zusammen, feierten zusammen, kauften zusammen ein, einfach alles, Hauptsache – ZUSAMMEN. Ewa besuche ich in Frankfurt, Sybilla und Marta werden Gottseidank nicht weit weg sein, in Düsseldorf. Es ist sehr schwer für mich, mir ein Leben ohne sie vorzustellen. Wir waren doch wie eine Person – was die eine freute, freute auch die anderen, was die eine quälte, quälte auch die anderen zwei.
Ich will nicht auf einmal erwachsen werden, ich will noch immer ein Kind bleiben. Aber ich will auch meine Träume verwirklichen. Meine Regeln brechen, meine Grenzen durchqueren. Etwas schaffen, zu etwas werden, zu JEMANDEN werden.
Neun Stunden später
Bin aber hundemüde. Ich will nur noch schlafen. Ins Bett rein, du nicht mehr so schnell raus. Da bin ich endlich, ich und mein Gerümpel, ich und meine drei Schränke.
Bochum, die Stadt, die mir die Augen geöffnet hat. Hier werde ich jetzt studieren und meine Pläne verwirklichen. Ich muss mir selbst beweisen, dass ich es kann, dass ich es schaffe.
Etwas geht zu Ende, etwas fängt an, schrieb Herr Sapkowski im „Hexer“. Da hatte er recht. Das Leben fängt neu an.
Aneta Wąsik - So, Klein …
„Du wirst es wohl kaum glauben, aber du hast mir das Leben gerettet“, flüsterte ich IHM ins Ohr, woraufhin, ohne die Antwort abzuwarten, ich in den Bus sprang. ER hat es wirklich nicht gecheckt. Absolut nicht. Nicht mal ein bisschen… Er hatte einen witzigen Gesichtsausdruck, als SEIN Gehirn versuchte die Nachricht zu verarbeiten. Er war es gewohnt, ein böser Junge zu sein, der die Freundinnen wie Socken wechselte, bis zum umkippen feierte und ein hervorragender Egoist war. Er fühlte sich bestimmt total komisch, als er die Worte hörte, die für IHN wiederrum wie „ Du kleiner Süßer, wunderschönes Schnuckelchen, du bist so lieb, sensibel und reif!“ klangen, also schrecklich. Es ist also möglich, dass es IHN verletzt hat, da SEIN „böser“ Image kaputt war, den er sich so schwer erarbeitet hat.
Ich hatte etwa 13 Stunden Heimfahrt vor mir. Ja… du hast mir das Leben gerettet, das konnte ich getrost sagen. Ich bin 21 Jahre alt und ENDLICH fühle ich mich wie ein JEMAND und nicht wie ETWAS. Wie eine wertvolle, selbstbewusste Frau und nicht wie ein weinendes, erniedrigtes Nervenbündel. P. ist wirklich ein Idiot gewesen. Ein totaler Trottel. Ich habe gleichzeitig geliebt und gehasst. Seit ich 16 wurde, also vor gut fünf Jahren, war ich sein Spielzeug, mit dem er spielen und dann in die Ecke werfen konnte, um es dann aus Sympathie und Bequemlichkeit wieder um den Finger zu wickeln und leere Versprechungen abzugeben. Dieses Spielzeug war bereit, ihm den letzten Cent zu geben, die Niere, das Leben. Das Leben…Wie oft wollte ich es beenden? Wie oft haben mich die Mädels rechtzeitig gerettet? Oft. Verdammt oft. Ich habe Unmengen Tränen vergossen. Mit ihm habe ich das eigene Selbstwertgefühl, Glauben, Würde, Wertschätzung, einfach alles, verloren.
Während die anderen zu rebellieren, seltsames Zeug zu rauchen, trinken bis zum Filmriss und an unanständiges Zeug zu denken begannen, lernte ich brav, habe Wettbewerbe gewonnen, habe zu Hause geholfen, ja, ich habe sogar versucht im Kloster zu leben. Das einzig verrückte war von Britney Spears auf AC/DC und Rammstein zu kommen. Von der harten Musik kam ich zu noch härteren, ich kleidete mich schwarz, liebte Nieten, aber NIE machte oder hörte ich IRGENDETWAS, was meinen Glauben beleidigen konnte. Ich hatte klare Grenzen, die ich wie PETA die Tierrechte beschützt habe. Alles in Allem, mit so einem Vergleich beleidige ich mich selbst. Und was passierte dann…? Ah so, als ein Mädchen, die bei dem Wort „Freund“ erbrechen musste, habe ich mich verliebt. Was für eine Ironie des Schicksals. In P., in dem Idiot, der aus mir eine Sklavin machte. Einen lebenden Toten. Eine Leiche. Pflanze. Zertreten, irgendwo vegetierend auf der Sahara der Gefühle. Und Mama hats gesagt! Die Mädels habens gesagt! Papa hat ihn fast mit der Fackel und Heugabel gejagt! Nur Oma hat ihn stets gefüttert, weil es so dürr und arm war… “Vielleicht hat er krankhafte Eltern?“. Ja Oma, mit Sicherheit. Krankhaft im Sinne vom Verwöhnen. Sie haben ihn mit Geld beworfen, wie widerliche Kerle auf die Tänzerinnen im Nachtclub. Lieber Gott… Verzeihe, ich habe komische Gedanken. Tausende auf einmal. Aber ich bin frei, so frei, dass ich jetzt mit reinem Gewissen so ein Facebookstatus einstellen kann… Oder nein, ich mache „das ist kompliziert“, es klingt viel lustiger. Oder „geschieden“. Gott… Idioten, Idioten überall.
Kaum zu fassen, dass ich vor zwei Wochen im Auto von P. saß, voller Hoffnung und Glauben, dass sich alles noch regelt und mit den Tränen in den Augen und zitternder Stimme sagend: „Weißt du… ich würde lieber die zwei Wochen hier im Auto verbringen und nicht im verdammten Deutschland.“ Tjaaa… Und ich erinnere mich an sein gefühlvolles und verbundenheitsvolles „Aha“. Ah… und die dramatische Szene: drei Uhr morgens, Regenströme, dunkel wie sonstwas. Und meine bitteren Tränen. Und diese Führerscheinprüfung in fünf Stunden. Und das blasse Gesicht, später im Bus zur Hölle, also nach Deutschland. Und die kaputte Blase, aber nein, das ist nicht wichtig.
Und die Freude, als ich IHN kennengelernt habe. Innerhalb von zwei Wochen hat ER mein Leben geändert, mich von Komplexen, von der Depression, von P., von den fünf Jahren geheilt. Auch wenn es sich dessen nicht bewusst war, wie sehr ER mir geholfen hat, dass ER mir wieder beigebracht hat, wie man lacht, liebt und sich selbst akzeptiert.
Manchmal wollen wir das Buchkapitel nicht beenden, da wir wissen, dass wir uns damit langsam dem Ende nähern. Jedoch jedes weiteres Kapitel ist interessant, voller Wendungen, neuer Helden. Es kann noch so viel geschehen…
Verdammt, es ist fast wie bei Paulo Coehlo geworden. Vielleicht sogar besser. Den armen Paulo verbinde ich jetzt hauptsächlich mit Beschreibungen komischer Bilder auf Facebook. Unbedingt mit Duckface!
So, Kleine… Jetzt feiere, entwickle dich, verwirkliche deine Träume. Hole die verlorene Zeit nach. Und jetzt schalte die Musik ein, schließe die Augen und schlaf. So lange, bis wieder eine amerikanische Komödie ausgestrahlt und die Klima eingeschaltet wird, dass es dir wieder die Gelenke verrenkt.
Schlaf du irre. Träume…!