16. Prämierungsrunde des Pegasus-Leserpreises vom 5. März 2009

Goldener Lufti - Marie-Aude Murail: Halb und halb für drei

Jurybegründung - Siméon, Morgane und Venise Morlevent – drei Geschwister, die sich nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter mit dem Leben als Waisenkinder konfrontiert sehen. Der Älteste, ein Hochbegabter von 14 Jahren, ist dabei sein Abitur abzu­schließen. Seine jüngere Schwester versucht ihrem Bruder nachzueifern und die Jüngste von allen ist in der Lage, alles auf einfache Art und Weise auf den Punkt zu bringen. Auf der Suche nach einer neuen Familie stoßen sie auf ihre Halbgeschwister Bart und Josiane, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Chaos trifft auf Spießertum und nach einem schweren Schicksalsschlag wird aus der anfänglichen Flucht vor der Verantwortung ein erbitterter Kampf um das Sorgerecht.

Schon zu Beginn wird deutlich, wie stark der geschwisterliche Zusammen­halt ist. Durch liebevoll eingebaute Details, wie das Morlevent’sche Ritual „Pow-Wow“, das als heimlicher ‚Familenkriegsrat’ das Refugium einer Bett­decke sucht, und die versteckte Schokoladensucht einer Richterin strahlen die Charaktere eine lebendige Wärme und herzliche Atmosphäre aus. Faszinierend einfach beschreibt die Autorin das Geschehen, sodass der Leser einen präzisen Eindruck von der Vielfalt der geschwisterlichen Eigenschaften erhält.

Wie bereits bei Marie-Aude Murails „Simpel“ festgestellt, bedient sich auch „Halb und halb für drei“ einiger Klischees, die jedoch nicht an der Ernst­haftigkeit und Qualität des Buches zweifeln lassen. Sie sind vielmehr eine Möglichkeit, die Handlung und die Fülle der Emotionen nachzuvollziehen, ohne sich in komplizierte und wirre Gedankengänge zu verstricken. So wird zum Beispiel der Halbbruder als ein schwuler Chaot, die Schwester als reiche Kardiologin beschrieben, doch durch den Einfluss der Morlevents vollzieht sich in ihnen eine klischee-untypische Veränderung. Mit geradezu brillanter Leichtigkeit gelingt es Marie-Aude Murail durch unterschiedliche Erzählperspektiven die verschiedenen Persönlichkeiten des Buches zu Wort kommen zu lassen. Auch Nebencharaktere werden dabei nicht außen vor und vermitteln dem Leser einen familienexternen Einblick in das Tohu­wabohu der fünf Protagonisten. Überhaupt scheint die Autorin auf die zwischenmenschlichen Beziehungen wieder einmal ganz besonders Wert zu legen. Das Buch lässt sich weder klar zur Kinder- noch zur Jugend­literatur ordnen, es verbindet kindliche Naivität amüsant mit erwachsener Ernst­haftigkeit.

‚Supersexy!’, findet auch unser Pferdchen und klatscht freudig in die Hufe. (Frankfurt a.M.: Fischer 2003)

Silberner Lufti - Veronika Rotfuß: Mücke im März

Jurybegründung - ‚Nieselregen setzt ein, sprenkelt die Fenster­scheibe flüssig silbern. Gut möglich, hat Yurik gesagt. Mehr als nur möglich, glaube ich. Mehr als nur möglich, dass ich und er, meine Mutter und der knisternde Haufen Menschen um uns herum Wunder sind.’

 Mücke ist ein typisches pubertierendes Mädchen. Sie kämpft mit den kleinen Tücken des Teenageralltags und versucht gleichzeitig auch ihren großen Sorgen gewachsen zu sein: Ihre Mutter leidet an Demenz und ihr Vater ist mit ihr und ihrem kleinen Bruder Jan überfordert. Mückes beste Freundin Nora hilft ihr so gut sie kann und auch ihre erste große Liebe, der geheimnisvolle Yurik, sorgt für willkommene Ablenkung. Doch zwischen Partys und Konzerten merkt Mücke, dass selbst die Liebe nicht immer so spielt, wie sie es sich vorstellt.

Auf den ersten Blick wirkt die Geschichte vielleicht wie eine typische Teen­agerstory, doch der leichte und unbeschwerte Schreibstil von Veronika Rotfuß nehmen dem Ganzen das Klischeehafte. Möglicherweise trägt auch der etwas bedrückende Hintergrund dazu bei, dass sich das Buch aus der Masse der grauen Standardjugendlektüren abhebt. Die liebevoll entwor­fenen Nebencharaktere, wie zum Beispiel Mückes jüngerer treuherziger Bruder Jan, verleihen der Handlung Harmonie, Charme und Authentizität. Durch ausgefeilte und unverfälschte Monologe ist es für den Leser ein Leichtes, in die mitreißenden Gedankengänge der Protagonistin hineinzu­blicken. Deren klare und simple Strukturen bestimmen die Erzählung. Das Geschehen wird gesäumt von prickelnden und anregenden Dialogen, die den Charakteren Farbe verleihen und eine frische Brise in Mückes Gedankenwelt hauchen. Das nicht vorhandene Happy-End nimmt dem Buch die utopische Regenbogenatmosphäre, in der jeder sein Hollywood-Glück findet, und verleiht ihm die nötige Ernsthaftigkeit.

Ein Silberner Lufti mit Reserven, der jedoch gerade durch seine Ecken und Kanten die Hufe unseres Pferdchens zum Tanzen bringt. (Hamburg: Carlsen 2008)

Bronzener Lufti - Robert Domes: Nebel im August

Jurybegründung - Ernst Lossa stammt aus einer Familie von Jenischen, zu Unrecht als „Zigeuner“ betitelt. Es ist das Jahr 1933, in der die Geschichte des Jungen beginnt. Seine Eltern sind als fahrende Händler ohne festen Wohnsitz dem NS-Regime ein Dorn im Auge. Bald werden Ernst und seine beiden Geschwister in ver­schie­dene Kinder- und Erziehungsheime gebracht. Da er wiederholt mit den dort geltenden strikten Regeln kollidiert und als "Zigeuner" stark aneckt, wird er nach einigen Jahren als "asozialer Psychopath" in die psychatrische Anstalt Kaufbeuren eingeliefert. Dort wird seinem Leben kaltblütig ein Ende gesetzt.

Dem Autor gelingt es durch einen unvoreingenommenen Schreibstil, Sym­pathien für den aufgeweckten und unlenkbaren Protagonisten Ernst Lossa zu entfachen. Erzählt Robert Domes anfänglich noch in romantischen Bildern, so verändert sich die Atmosphäre im Laufe der Handlung zu einer beklemmend-düsteren Stimmung. Mit zunehmendem Alter wandelt sich nicht allein die Atmosphäre, sondern auch die Wortwahl des Protagonisten. Dieser gekonnt entwickelte sprachliche und geistige Werdegang unter­streicht ebenfalls den biographischen Aspekt des Buches und das ver­änderte Verhalten Ernst Lossas gegenüber seiner Umwelt. Man liest mit Entsetzen über die damalige Behandlung von Behinderten, Geisteskranken und Menschen, die nicht dem Schema des NS-Regimes entsprachen. Gerade das macht es möglich, dass der Leser Partei ergreift für einen Jungen, der ein schweres Schicksal erleidet, es aber durch sein unange­passtes Verhalten sich und seinen Mitmenschen auch nicht leicht macht. Die Einsamkeit des Protagonisten wird durch die vernachlässigte Ausarbeitung der Nebencharaktere in den Vordergrund gerückt.

Dieses Buch hinterlässt einen berührenden und bedrückenden Nach­geschmack, dass selbst unser Pferdchen melancholisch mit den Nüstern schnaubt. (München: cbt/cbj 2008)

Lauer Lufti - Frank Reifenberg: Landeplatz der Engel

Jurybegründung - „Scheiß was drauf“ heißt es als Mirco in Fabians Leben platzt.

Mirco bekommt nie genug vom Nervenkitzel, dem am Tourette-Syndrom leidenden Fabian hingegen spielen seine Nerven gern einmal einen Streich. Mit dem Ausreißer Fabian und dem rausgeworfenen Mirco, begegnen sich zwei unterschiedliche Vergangenheiten, die sich zu einem gemeinsamen Schicksal vereinen. Die nächsten 48 Stunden begleitet der Leser die beiden auf ihrer Reise zu ihrem eigenen Landeplatz der Engel.

Auf den Rezipienten wird bei diesem Buch überhaupt keine Rücksicht genommen. Im Gegenteil, durch die sehr kompliziert angelegten Charaktere gelingt es nur schwerlich, das Werk in seiner Vielschichtigkeit zu erfassen. Deshalb braucht es einige Seiten, damit man beginnt die Protagonisten zu verstehen. Der vor allem von Mirco verwendete Slang behindert eher das Verständnis.

„Landeplatz der Engel“ ist ein Buch, das die Zerrissenheit vieler junger Menschen widerspiegelt, wobei es gerade durch diese Unausgeglichenheit schwerfällt sich mit den Hauptfiguren zu identifizieren.

Ein erheitertes Wiehern überkam unser Pferdchen jedoch bei dem überaus kreativen und ideenreichen sowie sehr individuellen Schreibstil des Autors, wie die Wortneuschöpfung „Fischstäbchensätze“ zur Bezeichnung von monotonen, leblosen und nicht von der Norm abweichenden Aussprüchen. Jedoch konnte die gelungene Wortwahl nicht die Defizite im inhaltlichen Aufbau und der Handlungsentwicklung wettmachen.

Denn das nicht unbedeutende Thema der Auseinandersetzung mit geistig Eingeschränkten kann sich unserem Pferdchen nur mühselig erschließen. Infolge der ermüdenden Dialoge, befällt den Leser das Bedürfnis einzunicken. Auch unser Gaul muss sich wiederholt zwingen diesen abstrus verschachtelten Roman aufzuschlagen, verliert jedoch nicht den Mut und liest tapfer weiter, bis zum bitter ersehnten Ende. (Stuttgart: Thienemann 2008)