Zaira Corona - Liebes Tagebuch,

heute wurde ich wieder mit „Fette Kuh!“ begrüßt. Es ist wirklich ein tolles Gefühl zu wissen, dass an­de­re dich so sehr beachten. Ich verstehe die komplexe Denkweise einiger Jugendlichen nicht: um 6 Uhr morgens schon mit `ner Bierflasche in der Hand, um 9 Uhr, also in der Hofpause, schon wieder und nach Schulschluss darf die eine Reserve zur „Erfrischung“ der Sinne nicht fehlen. Wissen die eigentlich, dass das schädlich ist und die Neuronen davon absterben? Ich wollte heute Morgen auf den Schulhof und diese betrunkenen Idioten standen vor dem Eingangstor. Sie schienen sehr glücklich darüber zu sein, mich zu sehen. So als ob sie mir die beste aller Fallen gestellt hätten. Ich ignorierte ihr Gelächter und die tollen Sprüche wie „Fette Schlampe“. Sie ließen mich natürlich nicht durch, und ich gab es auf. „Hey du Klugscheißer, heute Morgen wieder schön brav als Einzigste im Bus gelernt?“ Also wenn ich jetzt dumm gewesen wäre, hätte ich denen gesagt, dass die erst einmal richtig Deutsch lernen sollten. Aber ich senkte nur meinen Blick und wartete darauf endlich zum Unterricht gehen zu dürfen. Ich verstehe nicht, was daran so toll sein soll, jemanden fertigzumachen, den sie nicht einmal kennen. Ich weiß zwar, wie sie heißen, aber sie kennen mich nur als „Die Streberin“. Wieso konnten wir nicht normal miteinander reden? Als ob sie meine Gedanken gehört hätten, lachte das Oberhaupt der Bande und sagte: „Also, Alter, echt! Wieso ziehst du dich nicht ordentlich an?“ Ich prüfte mein Outfit, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. Da packten mich die zwei anderen an der Schulter und drückten mich gegen den Zaun. Der Kriminelle (tut mir leid, dass ich ihn so nenne! Aber sein Ver­halten kann doch nicht akzeptabel sein.) fasste an den Stoff meiner Jacke und riss mir an der Schulter den Ärmel auf. Es tat weh! Seine Wucht schien mir unfassbar. Ich hatte Schmerzen und fing an zu weinen. Ja, ich weiß, Schwächen nicht zeigen, blablabla … aber ich konnte nicht mehr! Was sollte das? Ich habe denen und anderen aus der Schule nie etwas getan – und sie behandelten mich wie Dreck. Es reichte mir. Ich sah mich kurz um und entdeckte nicht weit entfernt eine Lehrerin auf dem Schulhof, die mich anstarrte. WAS ZUM HENKER TAT SIE DA? Konnte sie nicht wenigstens Hilfe holen? Na klar, auf die Lehrer dieser Schule war nie Verlass. Die taten immer so, als würden sie sich um unsere Probleme kümmern, aber letztendlich interessierten sie sich überhaupt nicht für uns und wollten nur ihren Lohn am Ende des Monats bekommen. In Ordnung, dann hieß es also, diese Drecks­kerle um Gnade zu bitten. Toll! Dann fühlten sie sich wieder cool. Ich musste meine Angst zeigen, damit sie mich losließen und mir erst am nächsten Morgen die hunderteinundfünfzigste Lektion erteil­ten. „Bitte! Lasst mich los! … Ich gebe euch alles, was ihr wollt!“. So! und jetzt kam normaler­weise wieder der Part, wo sie sagten „Iiiih! Von dir wollen wir nichts! Das ist schon eklig genug, dass wir dich anfassen mussten!!“ Aber diesmal war es anders. Nun kam Ricky (Ja Ricky!!! Der aus meiner Klasse, den ich mal gemocht hatte: MEIN FRÜHERER BESTER FREUND IM KINDERGARTEN!) und stellte sich vor mich. Er spuckte mir ins Gesicht und sagte: „Du! Hast! Nichts! Besseres! Verdient! Guck dich an! Du siehst einfach nur eklig aus! Wasch dich nächstes Mal, wenn du herkommst. Es ist schon schlimm genug, dich hier sehen zu müssen. Deinen Gestank können wir nicht auch noch ertra­gen!“ Ich achtete auf das Pronomen: „Wir“. Immer, wenn sich diese „Menschen“ stärker fühlen muss­ten, redeten sie so, als ob sie für die ganze Schule sprechen würden. Wie irgendwelche Repräsentan­ten. „Wir“ können deinen Gestank nicht ertragen, „Wir“ müssen dich anfassen … Also!! Die haben einfach keine eigene Meinung und keinen Schimmer, wie sie sich vom Mainstream befreien können. Wenn die anderen mich nicht mögen, kann der Einzelne nicht dagegen angehen. Sie ließen mich end­lich los und ich blieb alleine zurück. Es hatte gerade geklingelt, aber ich konnte nicht zum Unterricht. Ich hatte verschmierte Schminke überall und meine Jacke war nicht mehr zu gebrauchen. Ich schloss mich in der Mädchentoilette ein. Meistens sieht sie in den ersten beiden Stunden noch gut aus (al­so ohne Klopapierreste überall, oder Haarfarbe im Waschbecken oder verstopfte WCs). Ich wollte nicht weinen. Kannst du dir vorstellen, wie schlecht ich mich fühlte? NEIN, das kann wohl keiner, aber ich SOLLTE nicht weinen! Ich DURFTE nicht riskieren, dass i-welche Mädchen, die zufällig hier herein­kamen, meine Schluchzer hörten. Dies war völlig ausgeschlossen! Stattdessen überlegte ich, wie ich endlich aus diesem Teufelskreis herauskommen könnte. Ich meine, du weißt das: keiner kann das stoppen. Ich will nicht eine solche Erinnerung an meine Teenagerzeit.

Gestern habe ich übrigens versucht, mit Papa darüber zu reden. Ich habe ihn gefragt, was er tun würde, wenn mich jemand mobben würde, und er antwortete mir: „Lass bloß zu, dass jemand dir etwas antut, und dann können die was erleben. Wenn sie dich beleidigen, sag ihnen, dass ich dann komme und sie k.o. schlage.“  ALSO ECHT! Die würden sich nicht einmal davon einschüchtern lassen, wenn ich sage, dass mein Papa bei der Armee ist. Naja. Ich saß also da auf Klo und fand keine andere Möglich­keit, als die, die Amanda Todd gesehen hat. Sich umzubringen. Ich weiß! Klingt echt depressiv, aber was gibt es für eine Alternative. Ich habe versucht Lehrer anzusprechen! Die Schule habe ich schon gewechselt und meine Eltern können auch nichts dagegen machen. Ja, objektiv betrachtet ist das echt dumm, aber ich lebe in dieser Situation! Ich bin das Opfer und meine Seele stirbt so und so schon lang­sam. Gut, ich werde mir das noch überlegen. Ich habe auf jeden Fall noch diese Möglichkeit, wenn sich nicht bald etwas ändert, dann … naja! Ich kann nicht anders.

Bis morgen, mein geliebter bester Freund, deine verzweifelte Tamara!