32. Prämierungsrunde des Pegasus-Leserpreises 2020

Goldener Lufti - Julie Murphy: Ramona Blue

Jurybegründung:

„Ramona Blue“ von Julie Murphy

„Ich bin dankbar für Hattie, obwohl sie mich wahnsinnig macht und obwohl sich ihr Leben mit einer solchen Geschwindigkeit aufbläst, dass es mich quasi aus meinem eigenen Zuhause verdrängt. Ich bin dankbar für meinen Dad, obwohl er immer so viel zu tun hat und müde ist und arbeiten muss, weil er für mich da ist. Immer. Und ich bin dankbar für Freddie. Die Freundschaft mit ihm hat mich jeden Tag ein Stück gerettet. So als wäre ich kurz davor gewesen unterzugehen, und Freddie hat mich langsam wieder an die Oberfläche gezogen.“

Ramona lebt mit ihrer älteren, schwangeren Schwester Hattie und ihrem überforderten Vater in einer Kleinstadt an der Küste Mississippis, die Andere nur für einen billigen Urlaub zu schätzen wissen. Ihre Familie hat durch den Hurrikan Katrina große Verluste erlitten, die immer noch auf ihnen lasten. Ramona tut mit zahlreichen Minijobs ihr Bestes um zu helfen. Die Familie hat für sie oberste Priorität. Diese Einstellung allein hilft allerdings nicht: denn die Situation übt großen Druck auf die Teenagerin aus, was durch die Spannungen zwischen ihr und ihrer Sommerromanze Grace noch verstärkt wird. Sie möchte mehr aus ihrem Leben machen, ihre kleine Welt erweitern, doch sie fühlt sich ihrer Familie gegenüber verpflichtet. Ihr Schicksal scheint besiegelt, bis ihr Kindheitsfreund Freddie wieder auftaucht. Mit seiner Ankunft kommt frischer Wind in Ramonas Alltag. Sie beginnt, ihre Stadt mit neuen Augen zu betrachten, lernt das Schwimmen als ihre Leidenschaft kennen und auch die Liebe zeigt sich ihr aus einem ganz neuen Winkel. Sexualität, Familie, Freundschaft, Liebe, Geld, Zukunftspläne, die eigene Identität und der richtige Platz in der Welt. Diese und noch viele andere Themen gehören zu unser aller Leben und das in den unterschiedlichsten Varianten. „Ramona Blue“ vereint all diese Dinge in einer wunderbaren, emotionsgeladenen Geschichte, die zwar manchmal ein wenig mit Problemen überladen wirkt, in der sich dadurch aber auch jeder wiederfinden kann.


Julie Murphy beschreibt ein Mädchen, das versucht aus dem Labyrinth ihres Alltags zu fliehen und letztendlich erkennt, dass sie nur mit Vertrauen und der Hilfe Anderer den richtigen Pfad finden kann, den Weg in ihre persönliche Freiheit. Die These, dass Liebe nicht alles aber definitiv ein guter Anfang sei, dringt nach und nach in Ramonas Bewusstsein ein und lässt sie erkennen, welche Möglichkeiten sie hat, wie toll all die Menschen um sie herum sind und wie wertvoll ihr eigenes Leben ist.
Gerade deshalb ist „Ramona Blue“ unglaublich gut für Jugendliche geeignet, da man sich in diesem Alter oft in ähnlichen Situationen befindet, in denen von allen Seiten Unsicherheiten auf einen einwirken und kein Pfad der richtige zu sein scheint. Julie Murphys unkomplizierter und doch poetischer Schreibstil schafft dabei den perfekten Rahmen für Ramonas Hoch- und Tiefpunkte.


„Ramona Blue“ gibt uns Hoffnung und erhält für die berührende Geschichte den Goldenen Lufti.

Silberner Lufti - Steve Tasane: Junge ohne Namen

Jurybegründung:

„Junge ohne Namen“ von Steve Tasane

„Auch ich habe mein Lebensbuch verloren. Die meisten unbegleiteten Minderjährigen im Lager haben ihr Lebensbuch verloren. Es wurde gestohlen, beschlagnahmt oder von Bomben zerfetzt, ist verbrannt oder im Meer versunken. Deshalb muss ich meine Geschichte erzählen. Und auch die von L und E und V. Wenn niemand unsere Geschichten hört, werden wir diesem Ort nie entkommen. Dann werden wir nie ein neues Zuhause finden. Dann werden wir nie neue Geschichten haben und unser Leben weiterleben.“

In „Junge ohne Namen“ erzählt der britische Schriftsteller Steve Tasane die Geschichte eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, der seine Papiere und damit seine Identität verloren hat. Ihm wurde der Buchstabe „I“ zugeteilt. „I“ geht davon aus, zehn Jahre alt zu sein. Er lebt in einem Flüchtlingscamp und hat nur seine Freunde „L“ „E“ und „V“, seine Leidensgenossen.


Der Autor beschreibt den Alltag des Protagonisten im Camp und mit welchen Schwierigkeiten das Leben behaftet ist. Die Romanfiguren leiden oft Hunger. Es gibt kein Spielzeug. „I“ sucht Ersatz in gefundenen Sachen. Für „I“ und die anderen Kinder geben nur Erinnerungen und teils Fotoalben Rückschlüsse auf ihr „früheres Leben“.
Aus der Ich-Perspektive berichtet „I“ von den Menschen im Camp, den unfreundlichen Wachmännern oder auch von „Charity“, die Essen spendet und sich um Kinder und Frauen kümmert. Als das Camp von Bulldozern niedergewalzt wird, sollen die Bewohner in Metallcontainern untergebracht werden.


Mit dem Erzählen im Präsens wird der Leser direkt in das Geschehen hineinversetzt und kann die Handlung in Echtzeit mitverfolgen. Die besondere Aufmachung des Covers spiegelt die Geschichte sehr gut wider. Die erste Seite befindet sich schon auf dem vordereren Umschlag und die Angaben zum Autor und das Impressum wurden auf den Rückeinband gedruckt, womit der begrenzte Zugang zu und der sparsame Umgang mit Ressourcen im Flüchtlingscamp sichtbar werden.


Der Roman gibt einen realen aber dennoch einfühlsamen Einblick in das Leben der geflüchteten Kinder in solchen Lagern. Obwohl gezeigt wird, mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen haben, handelt das Buch auch von der Hoffnung auf Freiheit.


Durch die anonyme Darstellung der Figuren und des Ortes wird anschaulich, dass die Probleme der Flüchtlinge in vielen Regionen vorhanden sind. Am Ende erfährt man, dass der Autor Steve Tasane der Sohn eines Flüchtlings ist. Er merkt jedoch an, dass „Junge ohne Namen“ nicht seine Geschichte, sondern die junger Flüchtlingskinder erzählt, die weltweit mit dem gleichen Schicksal zu kämpfen haben.


„Junge ohne Namen“ ist ein berührendes und beeindruckendes Buch, das die seit längerer Zeit aktuellen Flüchtlingskrisen thematisiert und den Leser dafür sensibilisiert. Deshalb vergeben wir den Silbernen Lufti!

Bronzener Lufti - Marisha Pessl: Niemalswelt

Jurybegründung:

„Niemalswelt“ von Marisha Pessl

„Lies die zweihundertfünfzig Bücher in der Wissenschaftsabteilung der Bibliothek in Warwick und eine Million Fachbücher bei Google Books und versuch rauszukriegen, ob irgendwann in der Geschichte der Welt irgendein Gelehrter wie Kopernikus, Aristoteles, Darwin oder Hawking irgendwas über Zeitfehler, kosmische Wartezimmer, tödliche Zwischenreich-Lotterien oder Menschenterrarien in der Hölle geschrieben hat.' Wie hieß nochmal der Begriff nach dem Sie suchen?', fragte mich die Bibliothekarin. 'Niemalswelt'. Sie tippte es in den Computer ein und schüttelte den Kopf.' Dazu gibt es in der Library of Congress keinen Eintrag.'“

Nach dem ungeklärten Tod ihres Freundes Jim ließ Bee ihr altes Leben zurück. Sie arbeitet im Café ihrer Eltern und hatte auch keinen Kontakt mehr zu Martha, Whitley, Kip und Cannon, den Anderen aus ihrer alten Clique. Fünf Jahre später wird Bee unerwartet zum Geburtstag von Whitley eingeladen, so trifft die Gruppe bei einem Konzert wieder aufeinander. Auf dem Rückweg im Auto geraten die Freunde in ein starkes Unwetter. Es kommt zu einem Unfall, doch die Freunde gelangen unbeschadet in Whitleys Haus. Dort sind sie jedoch nicht mehr allein. Ein Mann erwartet sie bereits und eröffnet ihnen ihr Schicksal. Sie alle hätten bei dem Autounfall ihr Leben verloren. Durch Zufall seien sie jedoch in einer Art „Zwischendimension“, der sogenannten „Niemalswelt“, gefangen. Diese können sie nur verlassen, wenn sie sich in einer geheimen Abstimmung auf eine einzige Person einigten, die ins Leben zurückkehren dürfe. Solange müssten sie den Tag des Unfalls immer und immer wieder erleben. – Jeder der Freunde geht anders mit der Situation um, aber ihnen allen wird langsam bewusst, dass Jims Tod der Schlüssel für die Entscheidung ist.

Marisha Pessls Roman ist wirklich mitreißend. Die Autorin hat es geschafft, das in der Literatur schon oft behandelte Motiv eines immer wieder durchlebten Tages in ein völlig neues Licht zu rücken. Denn durch die notwendige Entscheidung der Gruppe über Leben und Tod wird zusätzliche Spannung aufgebaut. Man will einfach herausfinden, wer überleben darf. Mit diesem Handlungsstrang verknüpft ist auch Jims Tod. Wie ist er wirklich gestorben?

Leider gibt es in der Umsetzung dieses vielversprechenden Konzepts aus unserer Sicht ein paar Schwachpunkte. Zum einen war die Reaktion der Jugendlichen auf ihre Situation teilweise sehr erschreckend. Man musste jedoch ohne weitere Erklärungen der Autorin versuchen, diese Handlungen zu durchschauen, wofür ein tiefes Eintauchen in die menschliche Psyche nötig ist. Was sich für ein Jugendbuch unserer Meinung nach nicht eignet. Zum Anderen ist die Auflösung rund um Jims Tod ernüchternd. Bee kannte von Beginn an einen Teil der Wahrheit, verdrängte diesen jedoch lange. Nach dem Eingeständnis fügten sich alle anderen Teile schnell und wenig ausgeschmückt im Kopf der Figur und des Lesers zusammen. Außerdem ist Bee eine eher schwache Figur. Im Verlauf der Geschichte wird ihre Naivität und die frühere emotionale Abhängigkeit zu ihrem Freund Jim immer deutlicher, was Bee auch immer wieder sehr zerbrechlich erscheinen lässt. Wir hätten uns für das brisante Thema des Buches eine stärkere Hauptperson gewünscht.


„Niemalswelt“ hat uns vor allem durch eine langanhaltende Spannung und ein starkes Handlungskonzept überzeugt, wir würdigen das Buch mit dem Bronzenen Lufti.

Lauer Lufti - Julya Rabinowich: Hinter Glas

Jurybegündung:

„Hinter Glas“ von Julya Rabinowich

„Mein Name ist Alice. Den Namen hat meine Mutter ausgesucht, wegen der Alice hinter den Spiegeln. Bekannter ist sie eigentlich aus Alice im Wunderland. Meine Mutter konnte nicht wissen, wie richtig sie damit lag. Ich hab mich auch in einer anderen Welt verlaufen. Manchmal war ich ganz klein, und manchmal war ich ganz groß. Manchmal fürchtete ich, in einem Meer aus meinen Tränen zu ertrinken. Aber ich habe es geschafft. Ich bin zurückgekommen und viel weiter gegangen, als ich es mir hätte träumen lassen, und ohne Dea wäre das Ganze womöglich anders ausgegangen. Dea war besser als jede Grinsekatze.“

Alice ist siebzehn, als sie Niko kennenlernt. Er ist lässig, sportlich und kommt angeblich gerade von einer Weltreise zurück. Auf jeden Fall ist er eins: nie um Worte verlegen. Alice verkörpert das genaue Gegenteil. Sie ist oft krank, unauffällig und vor allem leise. Das ändert sich allerdings durch Niko. Er schafft es, sie aus ihrem Schneckenhaus zu locken. Sie ist nicht mehr „Queen Bazilla“. Sie schafft es aus ihrem von außen so perfekt  wirkenden Zuhause auszubrechen. Sie muss nicht mehr leise sein. Doch auch bei Niko ist nicht alles Gold, was glänzt …


„Hinter Glas“ von Julya Rabinowich erzählt eine Geschichte vom Ausbrechen und Für-sich-Einstehen. Die Charaktere sind tiefgründig aufgebaut, wurden aber teilweise so stark ausgestaltet, dass sie überzogen wirken. Man erhält als Leser tiefgreifende Einblicke in die Gefühlswelt der Protagonistin Alice, die maßgeblich von ihren Mitmenschen beeinflusst wird.


Zeitsprünge verursachen einen gestörten Lesefluss, zudem fehlt Spannung. Die kurzen Sätze erzeugen eine Distanz zwischen Leser und Geschichte. Grundsätzlich ist der Hintergrundgedanke vom Befreien aus den eigenen Mauern ein sehr guter und vor allem sehr wichtiger Aspekt. In der Gestaltung sind schöne Ansätze vorhanden, die allerdings auf der Gefühlsebene noch weiter hätten ausgebaut werden können.


Das große Potenzial des aktuellen und vor allem schwierigen Themas wurde nicht genug ausgeschöpft. Deshalb bekommt „Hinter Glas“ den Lauen Lufti.